Super-GAU in Fukushima: «Es war die Nähe zu den Betreibern»
Vor 10 Jahren ereignete sich in Fukushima Daiichi nach einem Erdbeben eine nukleare Katastrophe. Die SES diskutierte mit Hans Wanner, dem damaligen Direktor des Eidgenössisches Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI), die Ereignisse in Japan und deren Auswirkungen auf die nukleare Sicherheit.
Interview von Simon Banholzer*
E&U: 11. März 2011 – Hans Wanner, welche Gedanken gingen Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder aus Fukushima sahen?
Es gibt kein Null-Risiko. So etwas kann passieren. Mich schockierte, wie schlecht die Anlagen direkt am Meer gegen häufig auftretende Naturkatastrophen geschützt waren. Das entsprach sicherlich nicht den technischen Standards. Es überraschte mich, wie ein hoch technologisiertes Land solche Anlagen in Betrieb hielt. Was mich ebenso erstaunte: War man international wirklich nicht über die Missstände informiert? Es gibt zahlreiche Gefässe, Konventionen und die IAEA... Das ENSI begann daraufhin, sein internationales Engagement zu verstärken. Offensichtlich bestand ein Mangel an internationalen Standards, insbesondere bei der Nachrüstungspflicht. 2015 wurde diese in der Wiener Erklärung über Nukleare Sicherheit festgesetzt – wegen des Widerstands der USA zwar bloss als nicht zwingend. In der Schweiz besteht diese Pflicht aber schon seit 30 Jahren.
E&U: Die japanische Aufsicht hat Ihrer Meinung nach ihre Aufgabe nicht erfüllt. Woran lag das?
Offensichtlich war es die Nähe zu den Betreibern. Die Aufsicht, die anschliessend komplett reorganisiert wurde, war nicht genügend unabhängig – hohe Kader, die hin und her wechselten. Das ist mit einer hohen Sicherheitskultur nicht vereinbar. Zudem hat Japan amerikanische Anlagen gekauft. Mit diesen wurde auch die amerikanische Gesetzgebung übernommen. Und diese sah keine Nachrüstpflicht vor. In der Schweiz hingegen hat man Mühleberg und Beznau an den Standard von Gösgen und Leibstadt zu führen versucht.

E&U: Wie verliefen danach Ihre ersten Gespräche in der Schweiz?
Als rein technische Behörde hat das ENSI versucht, laufend alle Informationen zu sammeln und einzuordnen. Politisch wurde es, als der Fokus weg von Japan und hin zur Schweiz kam. Wir haben typenähnliche Reaktoren und sind ebenfalls ein hoch industrialisiertes Land. Das war bei Tschernobyl anders. Was unterging: Die Anlagen in der Schweiz wurden nachgerüstet und waren auf einem anderen Stand als jene in Japan. Die Schweizer NGOs wussten das, hatten aber vor allem das Interesse, den Atomausstieg zu forcieren.
E&U: Hat sich Ihre Einstellung zur Nukleartechnologie nach Fukushima verändert?
Nein, eigentlich nicht. Aber Fukushima bestätigte, wie wichtig die Idee der laufenden Verbesserungen, der «Continuous Improvements» ist. Es ist wichtig, sich immer wieder zu hinterfragen: Entsprechen wir den neusten Standards?
E&U: Während der parlamentarischen Beratung des Kernenergiegesetzes haben Sie in einem Interview gesagt: «Wir dürfen nicht zulassen, dass politische und wirtschaftliche Überlegungen zu Abstrichen bei der Sicherheit der Kernkraftwerke führen.» Was sind die Gründe für diese Tendenz?
Ich sagte nie, es gebe diese Tendenz. In der Schweiz gibt es diese Tendenz bis heute nicht. Was gewisse Politiker und NGOs immer wieder kritisierten: Das ENSI sei zu wenig streng mit den Betreibern. Der Druck kann aber auch von der anderen Seite kommen, beispielsweise wenn es um das Thema Versorgungssicherheit geht.
E&U: Die Versorgungssicherheit steht aktuell im Fokus. Beim Nuklearforum ist es ein Dauerthema. Wie beurteilen Sie den Druck heute?
Solange ich im Amt war, gab es nie Anzeichen der Betreiber, die Nachrüstungen nicht umsetzen zu wollen oder dass das ENSI zu streng sei. Sie setzten die geforderten Nachrüstungen stets um.
E&U: Der Atomausstieg, der nach Fukushima in der Energiestrategie 2050 festgelegt wurde, sieht ein Neubauverbot vor, aber keine konkrete Laufzeitbegrenzungen für die bestehenden AKW. War dies schwierig für das ENSI?
Mit dem Neubauverbot fielen auch die logischen Daten für die Ausserbetriebnahme weg – dann nämlich, wenn die neuen AKW ans Netz gegangen wären. Ich persönlich denke, für die Sicherheit und das Engagement des Betreibers ist es ohne fixe Laufzeitbeschränkung besser. So muss der Betreiber selbst überlegen: «Wie lange lasse ich das Kraftwerk laufen?» Das kann er nur, wenn die Anlage einen Top-Sicherheitszustand aufweist. Diese Lösung richtete den Fokus natürlich auf das ENSI. Eine Herausforderung. Dabei ist die entscheidende Frage: Ist der Betreiber gewillt, in die Sicherheit zu investieren? Dann kann er die Anlage laufen lassen – sofern die Materialalterung dies zulässt. Eine politisch festgelegte Betriebsdauer wäre natürlich bequemer gewesen.

E&U: Denken Sie, der Druck auf das ENSI wird in den nächsten Jahren zunehmen?
Schwierig zu sagen. Das ENSI hat die Kriterien für den Weiterbetrieb stets klar definiert. Im Rahmen einer parlamentarischen Initiative im Nationalrat wurde ein Langzeitbetriebskonzept vorgeschlagen: Das ENSI hätte den Weiterbetrieb über eine bestimmte Dauer freigeben müssen. Dies hätten wir gerne so gehandhabt. Dennoch, der Druck sollte sich auch zukünftig in Grenzen halten.
E&U: Hätten Sie sich das Langzeitbetriebskonzept gewünscht, weil es Druck weggenommen hätte oder weil Ihnen die Durchsetzungskraft fehlte?
Gute Frage. Vielleicht war es eine Mischung aus beidem. Man hätte eine bessere Planbarkeit erhalten. Aber das wurde politisch abgelehnt. Damit mussten wir uns abfinden.
E&U: Die SES hat das ENSI oft stark kritisiert. Ärgerten Sie sich über diese Kritik der NGOs? Oder waren Sie manchmal sogar froh darüber?
Die Aufgabe der NGOs ist der kritische Blick auf uns und die Betreiber. Das ist in Ordnung. Ich fand das Verhalten der NGOs manchmal grenzwertig und zwar dann, wenn die Aussagen der NGOs in der Bevölkerung Angst auslösten. Am Beispiel Beznau: Die NGOs zielten immer auf das Alter, obwohl man wusste, dass das Alter gar nicht ausschlaggebend ist. er Sicherheitszustand hängt von den Nachrüstungen ab. Die guten Noten des EU-Stresstests für die Schweizer AKW wurden ignoriert.
E&U: 2019 ging das erste Schweizer AKW vom Netz. Ein Blick in die Kristallkugel: Wann folgt das letzte?
Das wäre spekuliert. Nun, wenn wir davon ausgehen, dass sie 60 Jahre am Netz bleiben, kann man die Abschaltdaten ausrechnen. Wenn in die Sicherheit investiert wird, kann eine Anlage auch mehr als 60 Jahre betrieben werden. Die Frage bleibt: Sind die Betreiber bereit, in die Sicherheit zu investieren?
*Der Autor

Simon Banholzer
Leiter Politik
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